Spoiler: Das Foto habe ich nur gewählt, weil es das einzige meiner Fotos ist, dass irgendwie einen Bezug zu Russland bzw. der Sowjetunion hat. Es zeigt meine Mutter, meine Schwester und mich auf einer Reise Mitte der 80er nach Moskau. So, jetzt aber zum medizinischen Text, der uns auch in die Sowjetunion führt, aber viel früher…
Der Sohn einer ukrainischen Krebspatientin fragte mich heute nach einer Erkrankung, von der ich noch nie in meinem Leben vorher gehört hatte. Er verwies auf ein Dokument, auf dem die in der Ukraine behandelnden Ärzte vermerkt hatten, angesichts der Krebsdiagnose drohe der Patientin eine „neurozirkuläre Dystonie“. Eine was? Nur weil ich davon noch nichts gehört hatte, heißt das ja nicht, dass es das nicht gäbe. Wie ich mich kenne, ist eher das Gegenteil richtig. Allerdings betreuen wir in unserem Krankenhaus viele in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion vorbehandelte Patient*innen. Diese Erfahrung hat mich leider gelehrt, dass vielen Patientinnen aus diesem Teil der Welt überdramatisierende Diagnosen zugesprochen und entsprechende Rosskuren verordnet werden. Es wurden wiederholt übertriebene Krebsdiagnosen mit zu hoher Stadieneinteilung gestellt. Den Patientinnen wurde damit zu viel zu aggressiven Therapien geraten wie radikalen Operationen mit entsprechendem Nebenwirungsrisiko. Die Angst vor einer Krebserkrankung, die ja meist zweifellos gerechtfertigt ist, scheint bei einigen Vorbehandlern jedoch übermächtig zu sein, so dass den Patientinnen für uns grotesk anmutende Empfehlungen gegeben werden, wie z.B. sich wenig zu bewegen, keine Sauna- oder Schwimmbadbesuche mehr.
Es ist einer der Gründe, warum Patient*innen, die es sich leisten können, lieber nach Westeuropa kommen, um hier zumindest eine Zweitmeinung zu bekommen. Auch das Vertrauen gegenüber den Medikamenten und Chemotherapien in Russland ist nicht sehr groß. Es wird häufig bezweifelt, dass drinnen ist, was draufsteht. Zumindest dies kann einem aber auch in Deutschland passieren, wie uns der letzte Apothekenskandal in Bottrop gezeigt hat. Der Skandal ist zum Glück bei uns eine große Ausnahme und wird immernoch als ein solcher angesehen.
Meine gewisse Skepsis gegenüber Therapieempfehlungen aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion war nicht schon immer da. Anfangs hatte ich nicht verstanden, dass Patient*innen soviel Geld ausgaben und weit reisten für eine Behandlung in Deutschland. Das änderte sich aber leider mit der zunehmenden Zahl an Behandlungskontakten. Andererseits versuche ich trotzdem zu reflektieren, inwieweit meine Skepsis eine möglichst objektive Beurteilung behindert und ich nicht zu oft verallgemeinere, in die falsche Schublade einordne oder Unrecht tue. Selbstverständlich betreffen meine Äußerungen nicht alle Ärzte östlich von Brest und Lwiw.
Allerdings wurde ich schon wieder misstrauisch bei der Erwähnung der ominösen „neurozirkulären Dystonie“. Gibt es dies Krankheit überhaupt? Was sollte das sein? Zum Glück kann man googeln. Die Recherche in unserer medizinischen Datenbank Pubmed brachte 352 Ergebnisse. Das ist natürlich nicht viel. Bei einer Krebs- und Chemotherapienebenwirkung wie der Fatigue („Müdigkeit“) stößt man auf über 104.000 Veröffentlichungen. Aber 352 sind eben auch nicht nichts. Wenigstens ein Text in der Zeitschrift „Kardiologia“ von 2003 stellte aber die gleiche Frage wie ich: „Does this disease exist?“. Leider ist der Text auf russisch, so dass ich die Antwort anderswo finden musste. In der Liste der 352 fanden sich noch weitere wissenschaftliche Texte, also weiter gesucht. Doch Moment, jede dieser Veröffentlichung war auf russisch oder ukrainisch. Man musste bis zu Zeitschriften vom Anfang der 60er Jahre weiterklicken, bis einige deutsche Artikel erschienen. Englischsprachige Artikel, immerhin Wissenschaftssprache Nr. 1 fanden sich fast gar nicht. Gibt’s diese Krankheit nur noch in Russland und der Ukraine? Hatten wir sie in Deutschland ausrotten können? Und war sie jenseits des eurasischen Festlands nie aufgetreten? Oder war die Medizin in Russland in den 60ern stecken geblieben? Meine Überheblichkeit vermutete natürlich Letzteres. Wahrscheinlich konnte ich dies dem Sohn meiner Patientin gegenüber auch nicht ganz verbergen, als ich ihm erklärte, dass er sich vor dieser Krankheit nicht fürchten müsse. Das gäbe es überhaupt nicht. Natürlich teilte ich dies dem Sohn nicht so mit. Ich beeilte mich zu erklären, dass in jedem Teil der Welt gedacht werde, der Mittelpunkt der Welt sei hier und was hier medizinische getrieben würde, sei das Nonplusultra. Dass man solche Aussagen also immer mit Vorsicht genießen solle.
Ich wusste allerdings immernoch nicht, was mit dieser Bezeichnung „neurozirkuläre Dystonie“ überhaupt beschrieben werden sollte. Zu den deutschsprachigen Artikeln aus den 50ern gab es keine Abstracts. Die Vermutung eines Begriffs aus Neurologie, Psychologie oder Psychiatrie lies erwarten, dass ich als Gynäkologe da wahrscheinlich sowieso nur im Halbdunkeln rumtappen konnte. Aber zum Glück gibt es noch andere Foren, in denen sich über wissenschaftliche Erkenntnisse ausgetauscht wird. Ein solches ist researchgate.net. In diesem Wissenschaftsnetzwerk posten Forscher ihr Arbeiten, kommentieren oder helfen sich bei der Lösung ihrer Fragen. Im Jahr 2012 stellte dort Igor Moraru genau die Frage, die mich heute umtrieb: Hat jemand außerhalb der Russischen Förderation jemals von „neurozirkulärer Dystonie“ gehört? Er habe davon ebenfalls nur in russischen Veröffentlichungen gelesen, fand das suspekt und wunderte sich, ob es das überhaupt gibt. Der größte Teil der Antwortenden tat dies mit einem schriftlichen Schulterzucken. Es gab allerdings einige ältere Kolleg*innen, die diesen Terminus tatsächlich einordnen konnten. Ich würde es als Angststörung mit vegetativen Symptomen (z.B. Herzrasen) sehr kurz zusammenfassen. Es war unter den Diskutanten aber umstritten, ob es dies gibt, oder damit nicht bis in die 60er Jahre ein Syndrom zusammengefasst wurde, dessen Mechanismen man heute besser versteht und deshalb besser benennt.
Die meines Erachtens beste Antwort in diesem Thread gab eine Frau Dr. med. Mechthilde Kütemeyer. Sie schrieb in einer knappen und trockenen Antwort: „In den 50er Jahren gebräuchlicher Begriff für Angstneurose mit multiplen körperlichen Beschwerden. Heute würde man sagen „somatoform“ oder (wenn multilokale Schmerzen im Vordergrund stehen) „Fibromyalgie“ oder (wenn Erschöpfung im Vordergrund steht) „Chronic fatigue syndom“: somatophile Verlegenheits-Diagnosen, die in der Medizin nur dazu dienen, den Affekt (Angst oder Wut) zu eliminieren, um nicht mit dem Patienten über seine seelische oder soziale Not sprechen zu müssen.“
Wenn man die Seite der mittlerweile verstorbenen Kollegin liest, schien sie zu wissen, wovon sie sprach: http://www.kuetemeyer.info
Dieses sicherlich wenig bedeutende Beispiel zeigt jedoch, wie wichtig der internationale Austausch der Wissenschaftler untereinander sein kann, insbesondere über Sprachgrenzen hinweg. Offenbar werden durch lokale Nomenklaturen Mauern errichtet, die über Jahrzehnte scheinbar parallele Wissenschaftswelten aufrecht erhalten und nur schwer zum Einsturz oder zur Durchlässigkeit gebracht werden können.

Unserer Patientin mit der Krebserkrankung aus der Ukraine geht es zum Glück auch unter ihrer Chemotherapie erstaunlich gut. Kein Anhalt für „psychosomatische Beschwerden“, soweit man das als Behandler sagen kann, wenn man die Patientin nur zu zeitlich sehr begrenzten Gesprächen allenfalls monatlich sieht. Aber der Sohn versicherte mir auch dies. Wir geben uns sehr viel Mühe, den Krebspatien*innen nicht nur durch Operationen, medikamentöse Therapien oder Bestrahlung zu helfen. Auch eine psychosomatische Betreuung gehört heute zum Krebsbehandlungsstandard in deutschen Krankenhäusern. Bestimmt haben wir dadurch schon die eine oder andere „neurozirkuläre Dystonie“ verhindert.