Krebs – eine Altlast der Evolution?

Kaum eine wissenschaftliche Theorie hat unser Verständnis der Welt so stark beeinflusst wie die Evolutionstheorie. Dabei beschränken sich Erklärung mit Hilfe der Evolutionstheorie nicht nur auf biologische Phänomene. Evolutionstheoretische Ansätze werden mittlerweile auch in Chemie, Physik und Informationstechnologie erfolgreich verfolgt. Inwieweit evolutionstheoretische Betrachtungen Krankheiten, insbesondere Krebs erklären können und wie sich das auf deren medizinische Bekämpfung auswirkt, soll in diesem Artikel erläutert werden. Dabei stand für mich am Anfang die möglicherweise naive Frage: Warum gibt es Krebs? Warum lässt die Evolution die Existenz dieser „Geißel der Menschheit“ zu? Hat Krebs vielleicht sogar einen evolutionären Sinn?

Modellabhäniger Realismus

Bevor wir uns der evolutionsbiologischen Erklärung von Krebs genauer widmen, möchte ich voranstellen, dass unsere Erklärungsversuche der Welt oder unsere Vorstellungen von Phänomenen naturgemäß immer Modellcharakter besitzen. Die Erkenntnisfähigkeit unserer Gehirne ist begrenzt, so dass das, was wir wissen, immer nur eine Näherung an die Realität darstellt. Die Modelle, die wir uns von unserer Umwelt schaffen, sollten gleichwohl hohen Qualitätskriterien entsprechen, um ein möglichst genaues Abbild der Realität zu sein. Im Konzept des „modellabhängigen Realismus“ von Stephen Hawking und Leonard Mlodinow können dabei durchaus verschiedene Modelle nebeneinander scheinbar mehrere Realitäten beschreiben ohne dass eines richtiger als das andere ist. Gute wissenschaftliche Modelle oder Theorien sollten sich dabei durch Eleganz, Sparsamkeit, Erklärungskraft und Vorhersagefähigkeit (Robustheit) auszeichnen [1]. Insofern möge der Leser die Ausführungen im folgenden Text einer kritischen Betrachtung unterziehen.

Der Krieg gegen den Krebs – ein Stellungskrieg ohne Sieger

US-Präsident Richard Nixon unterschrieb 1971 den National Cancer Act und rief den Krieg gegen den Krebs aus. In der Euphorie nach den Erfolgen der Chemotherapie bei der Bekämpfung von Leukämien im Kindesalter und unter dem Druck starker Lobbygruppen (z.B. der Lasker Foundation) schien die Bekämpfung des Krebs nur eine Frage der Zeit und des Geldes. Es flossen Milliarden staatlicher Fördermittel in das National Cancer Institute (NCI) zur Verringerung der Inzidenz, Morbidität und Mortalität von Krebs. Schätzungen sprechen von bis zu 105 Mrd. $ bis zum Jahr 2009.

Die Sterberate über alle Krebsarten betrachtet ist seit den 70er Jahren nicht wesentlich gesunken.

Die Erfolge dieses Kriegs sind leider nur schwer zu messen. 2003 wurde vom damaligen Direktor des NCI Andrew von Eschenbach ein Wettbewerb zur „Eliminierung des Leidens und Sterbens an Krebs“ bis zum Jahr 2015 ausgerufen. Wie wir wissen, gibt es bisher keinen Sieger. Die Sterberate über alle Krebsarten betrachtet ist seit den 70er Jahren nicht wesentlich gesunken. Aus den vom NCI veröffentlichten Daten geht ein jährlicher Rückgang seit 1978 von 0,4% hervor, was sich auf einen Gesamtrückgang seit 1950 von gerade 5,8% summiert [2]. Zu einer differenzierten Betrachtung gehört natürlich, dass bei einigen Krebsarten tatsächlich spürbare Fortschritte erzielt werden konnten. Es ist aber auch richtig, das z.B. Krebs der Bauchspeicheldrüse oder der Eierstöcke im Prinzip weiterhin als unheilbare Krankheiten gelten. Ein Rückgang der auf Krebs zurückführbaren Sterberaten von 15,8% zwischen 1991 und 2006 ist zu einem sehr großen Anteil (40%) auf die strengen Antirauchergesetze der USA zurückzuführen und weniger auf Fortschritte in der kurativen Medizin [3].

Das führende Wissenschaftsmagazin „Nature“ veröffentlichte 2012 Daten, dass bei 90% der präklinischen Krebsstudien (Studien im Reagenzglas, an Zellkulturen oder an Tieren) die Ergebnisse nicht reproduzierbar sind, also bei Wiederholung des Versuchs durch die gleiche oder andere Forschergruppen andere Ergebnisse herauskommen [4].

Könnte es sein, dass diese ernüchternden Zahlen darauf zurückzuführen sind, dass wir an der falschen Front kämpfen? Dass wir die Schwachstellen des Gegners gar nicht kennen? Müssen wir unsere Vorstellungen von Krebs und dessen Entstehung oder Existenz neu überdenken, um erfolgreichere Strategien und Methoden gegen ihn finden zu können? Diese und ähnliche Fragen stellen sich verschiedene Wissenschaftler, vom Mediziner bis zum Astrophysiker, von denen einige hier vorgestellt werden. Zuvor sollen jedoch unsere derzeitigen und allgemein anerkannten Krebstheorien und ihre Geschichte kurz erläutert werden.

Historie der Krebstheorien

1858 sah der Berliner Pathologe Rudolf Virchow in seinen mikroskopischen Untersuchungen von Geweben einen Zusammenhang zwischen Entzündung und Tumorentstehung, so dass er Entzündungen als Krebsauslöser ansah.

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Von Unbekannthttp://ihm.nlm.nih.gov/images/B29494, Gemeinfrei, Link

20 Jahre später wies Walther Flemming in Prag erstmals Chromosomen in den Zellkernen von Salamandereiern nach. Virchows Assistent David Paul von Hansemann erkannte in Krebszellen „missgestaltete“ Chromosomen. Eine weiterer Assistent Virchows, Theodor Boveri erkannte 1914 durch Experimente an Seeigeleiern Chromosomenanomalien als den Krebszellen innewohnende Ursache. Parallel dazu gelang es Peyton Rous 1911 in New York, Viren als Krebserreger einer Krebsart bei Hühnern zu identifizieren, was ihm 1966 den Nobelpreis einbrachte.

In den 70ern des 20. Jahrhunderts, 1971, postulierte der amerikanische Genetiker und Onkologe Alfred Knudson durch statistische Untersuchungen an Augentumoren (Retinoblastom) die Existenz sogenannter Tumorsupressorgene. Darunter versteht man Informationseinheiten auf der DNA, die für Proteine kodieren, mit deren Hilfe Zellwachstum und Zellvermehrung unterdrückt und der programmierte Zelltod gesteuert wird. Dies ist eine Art, mit der die fragile Balance zwischen gesteuerter Gewebsvermehrung bzw. -ersatz und ungebremstem Tumorwachstum kontrolliert wird.

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Von Unknown, donated by General Motors – This image was released by the National Cancer Institute, an agency part of the National Institutes of Health, with the ID 8196 (image) (next)., Gemeinfrei, Link

Demgegenüber beschrieben 1976 Harold Varmus und Michael Bishop einen quasi entgegengesetzten Mechanismus, bei dem sogenannte Protoonkogene für Krebsentstehung verantwortlich gemacht werden. Bei diesen Protoonkogenen handelt es sich um Informationseinheiten auf der DNA, die, wenn durch eine Mutation aktiviert, für Proteine kodieren, die wiederum so in den Zellzyklus eingreifen, dass ungebremstes Wachstum und Zellteilung die Folge sind.

Unsere derzeitig wohl am breitesten akzeptierten Kennzeichen, die Krebs definieren, wurden 2000 von Robert Weinberg und Douglas Hanahan formuliert [5]:

  • eigenständiger Vermehrungstrieb der Zellen (pathologische Mitose)
  • Unempfänglichkeit gegenüber wachstumshemmenden Signalen
  • Umgehung des programmierten Zelltods (Apoptose)
  • grenzenloses Fortpflanzungspotential (unsterbliche Zellen noch nach generationenlangem Wachstum)
  • Fähigkeit, sich eine eigene Blutversorgung zuzulegen (Tumorangiogenese)
  • Gewebeinvasion und Metastasierung (Fähigkeit in andere Gewebe einzuwachsen und Tochtergeschwülste zu bilden)

Nach diesem gängigen Modell sind mehrere Mutationen als Auslöser für eine bösartige Entartung von Zellen nötig. Diese Mutationen können durch ionisierende Strahlung, chemische Substanzen oder Viren vervorgerufen werden.

Es stellt sich die Frage, wie wahrscheinlich solche Mutationen in solcher Anzahl sind. Wieviele Zufälle müssen zusammentreffen, um Tumorwachstum auszulösen? Ist Krebs angesichts dessen häufig oder selten? Diese Fragen führen uns zu

Petos Paradoxon

Der britische Statistiker und Epidemiologe Richard Peto wies auf einen Widerspruch in der Onkologie hin. Mit der Zunahme der Zellzahl bei großen Säugetieren, nimmt die Wahrscheinlichkeit für Mutationen proportional zu. Das müsste eigentlich zu einer höheren Rate an Krebserkrankungen bei größeren Säugern führen. Tatsächlich unterscheidet sich das Krebsrisiko zwischen großen und kleinen Säugern aber nur unwesentlich. Sowohl bei Hunden, Menschen oder Blauwalen liegt die Rate krebsbedingter Todesfälle bei ca. 20% [6].

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Photo by Pixabay on Pexels.com

Um dieses Paradoxon aufzulösen, müssen wir nun endlich auch evolutionsbiologische Überlegungen einbeziehen. Offenbar haben die Organismen Strategien entwickelt, das Krebsrisiko zu begrenzen. Die höhere Zahl an Mutationen bei höherer Zahl an Körperzellen muss durch andere Phänomene ausgeglichen werden. Ein heißer Kandidat dafür ist das Immunsystem. Anders formuliert kann man richtiger sagen: Ohne dass durch evolutionäre Prozesse Mechanismen entstanden wären, die das Krebsrisiko eines Organismus begrenzen, könnten größere Säugetiere gar nicht existieren. Für Mediziner stellt sich die Frage, warum diese Mechanismen bei manchen Menschen versagen und andere wiederum gesund sehr alt werden können.

Evolutionäre Grundlagen der Krebsbiologie

Die Evolutionsbiologie ist der Teilbereich der Biowissenchaften, der die Evolutionsgeschichte, Evolutionsmechanismen und Evolutionsfaktoren betrachtet. Die natürliche gerichtete Selektion ist der dominierende Evolutionsfaktor. Sie führt über Generationen hinweg zur Adaptation der Individuen einer Population an die aktuellen Umweltbedingungen. Individuen einer Population, die für ein Überleben unter aktuellen Umweltbedingungen ungünstige Eigenschaften besitzen, pflanzen sich nicht fort, so dass deren Eigenschaften aussterben. Ein klassisches Beispiel, wir erinnern uns vielleicht an unseren Biologieunterricht, sind die Birkenspanner-Schmetterlinge in England, die sich durch natürliche Selektion eine schwarze Flügelfarbe erwarben, womit sie auf den durch Umweltverschmutzung dunkel gewordenen Birkenstämmen wieder besser getarnt vor Fressfeinden überleben und ihre Erbinformation an Folgegenerationen weitergeben konnten. Diese Anpassungsvariante wird als Industriemelanismus bezeichnet.

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Von Chiswick Chap – Self-published work by Chiswick Chap, CC BY-SA 3.0, Link
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Von Chiswick Chap – Self-published work by Chiswick Chap, CC BY-SA 3.0, Link

Auch Tumorzellen unterliegen natürlich evolutionären Mechanismen, wie dem Selektionsdruck. Die natürliche Selektion erklärt z.B., warum Tumorzellen Resistenzen gegen Behandlungen wie Chemotherapien entwickeln. Eine Krebsgeschwulst besteht aus einer Vielzahl von Zellklonen, von denen einige möglicherweise genetische Eigenschaften besitzen, die diese weniger anfällig gegenüber einem Krebsmedikament machen. Wird das Medikament eingesetzt, stirbt der größte Teil der Tumorzellpopulationen ab. Lediglich die wenigen ressistenten Klone mit dieser bestimmten Eigenschaft überleben. Sie haben einen Selektionsvorteil und können sich danach, wegen geringerer Konkurrenz mit den anderen Zellklonen umso ungehemmter ausbreiten, so dass die Krebserkrankung mit zunehmender Dauer und Behandlung als immer aggressiver und weniger gut auf Medikamente ansprechend in Erscheinung tritt.

Auch das Leben einer Tumorzelle ist alles andere als einfach. Die meisten schaffen es nämlich nicht.

Nun ist Konkurrenz ein wichtiges Stichwort. Genauso, wie in ökologischen Modellen der Makrobiologie sind Tumorzellen im mikrobiologischen und molekularbiologischen Bereich abhängig von ihren Umweltbedingungen. Auch das Leben einer Tumorzelle ist alles andere als einfach. Die meisten schaffen es nämlich nicht. Auch wenn uns das Tumorzellwachstum im Organismus chaotisch vorkommt, unterliegt es chemischen (z.B. hormonalen) Regulationsmechanismen die durch Nachbarzellen, Nachbartumorzellen, Geweben oder den gesamten Organismus eingesetzt werden. Mit den eigenen Geschwistern aber auch den gesunden Körperzellen konkurrieren sie z.B. um Nährstoffe. Es ist eine der Grundvoraussetzungen, dass ein Tumorgewebe Zugang zum Blutkreislaufsystem findet um zu überleben. Dazu werden Signalstoffe in die Umgebung abgegeben, die das Blutgefäßwachstum in Richtung Tumorgewebe unterstützen. An diesem Mechanismus greifen beispielsweise moderne Tumormedikamente an. Sogenannte Angiogenesehemmer versuchen, diesen Mechanism zu blockieren und Tumorwachstum einzudämmen.

Andere Zellökologische Faktoren, die es Tumorzellen einfach oder schwer machen zu überleben, gehen vom Immunsystem und verschiedenen Mikrooganismen aus.

Die Möglichkeiten, wie eine Zelle, ein Gewebe oder ein Organismus auf Umweltfaktoren reagieren kann, sind in der DNA in den Genen festgelegt. Mindestens seit es biologische Strukturen auf unserem Planeten gibt, wirken Evolutionsfaktoren. Wissenschaftlern wie dem Astrophysiker Paul Davies und dem Astrobiologen Charley Lineweaver ist aufgefallen, dass die Strategien, die es einer Tumorzelle ermöglichen, in einer größtenteils feindlichen Umgebung zu überleben, verblüffende Ähnlichkeit, wenn nicht sogar Übereinstimmung haben mit den Mechanismen, die einzelliges Leben möglich machen.

Die Atavismus-Hypothese

Allein von der Dauer ihres Daseins und der schieren Anzahl müssen die Einzeller als die eigentlichen Herrscher unserer bekannten Welt betrachtet werden. Mehrzellige Lebewesen gibt es erst seit ca. 1 Mrd. Jahren. Da waren die Einzeller schon mehrere Milliarden Jahre da.

Zeitleiste Leben auf der Erde
nach Davies P: Cancer: The Beat of an Ancient Drum

Während bei Einzellern die Überlebensstrategie ziemlich einfach umschrieben werden kann, nämlich Wachsen und Teilen, egal, was da kommt, müssen mehrzellige Organismen subtilere Methoden gefunden haben, um zu überleben. Ihre Zellen spezialisieren sich, übernehmen verschiedene Aufgaben im Organismus. Aber dadurch sind sie auf die Funktionstüchtigkeit der anderen Zellen und Gewebe des Organismus angewiesen und können deren Funktion und Platz nicht einschränken ohne sich selbst die Lebensgrundlage zu entziehen. Das ungehemmte Wachsen und Teilen der Einzeller muss im mehrzelligen Organismus gesteuert werden. Dazu dienen beispielsweise Maßnahmen wie der programmierte Zelltod, die Apoptose.

Nun sind alle Möglichkeiten und „Baupläne“ der Organismen, die Informationen darüber, wie die beschriebenen Mechanismen funktioneren, in den Genen der DNA gespeichert. Dabei tragen unsere Zellkerne einen Großteil der Informationen der Elterngenerationen in sich, so auch des einzelligen Lebens. Nützlich sind diese alten Informationen, also auch, wie einzelliges Leben funktioniert, sehr wahrscheinlich nur einen ganz kurzen Zeitraum im Leben eines Individuums. Während der Emryonalperiode ist jeder von uns wenigstens für ein paar Minuten bis Stunden ein Einzeller. In ganz verschiedenen Zeiträumen unserer Embryonalentwicklung sind Eigenschaften und Fähigkeiten wichtig, die für weit zurücklebende Vorfahren die Hauptlebenszeit bestimmt haben. Die meiste Zeit in unserem Leben sind diese Informationen in unserer DNA allerdings stumm geschaltet und versiegelt. Wenn es gut läuft, werden sie nur abgerufen, wenn es für den Organismus vorteilhaft ist. Wenn es schlecht läuft, kommt es durch „irrtümliches“ Auslesen dieser Informationen zur Ausprägung von Merkmalen früherer Vorfahren. Dieses Phänomen wird als Atavismus bezeichnet. Vielleicht hat man schon von den Kindern gehört, die mit einem Schwanz oder Rudimenten davon geboren werden. Manche erinnern sich vielleicht an Krusty den Clown von den Simpsons, der überzählige Brustwarzen hat.

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Von ZureksEigenes Werk, CC BY 3.0, Link

Davies und Lineweaver stellten nun die Hypothese auf, dass Krebs ein solcher Atavismus aus unserer einzelligen Geschichte sein könnte. Sie postulieren, dass bei Krebs Programme aufgerufen werden, die zu ungezügeltem Wachstum, Zellteilung und Invasion anderer Populationen befähigen, obwohl diese maximal während unserer Embryonalentwicklung nützlich gewesen sein könnten und sonst lieber abgeschaltet und versiegelt in den Weiten des DNA-Molküls schlafen sollten. Krebs wäre demnach nicht neu evolutionär entstanden als Krankheit der Vielzeller, sondern durch Reaktivierung alter Gensequenzen. Diese Reaktivierung könnte durch äußeren Stress oder Schädigung durch Umweltnoxen hervorgerufen werden, so dass die betroffenen Zellen in einen „Safe-Mode“ schalten, der sie selbst überleben lässt, ohne Rücksicht auf Verluste. Davies und Lineweaver bemühen hier gern das Beispiel des Computerbetriebssystems. Wenn Windows abstürzt, kann es manchmal seine wichtigsten Funktionen im Safe-Mode erledigen, der gesamte Computer wird aber wenigstens zunächst nur sehr wenig brauchbar.

Es sprechen einige Befunde dafür, dass diese Hypothese ein ziemlich genaues Modell für das Verständnis von Krebs liefern könnte. So ist es evolutionär einfacher bzw. viel wahrscheinlicher, dass alte, bestehende Gensequenzen reaktiviert werden, als dass evolutionär durch trial and error völlig neue, sinnvoll funktionierende Informationseinheiten entstünden. Man kennt z.B. das menschliche „Myc-Onkogen“, eine Gensequenz, wie sie in Eierstock-, Brust, Darm- und Magenkrebs gefunden werden kann. Diese Gensequenz lässt sich z.B. im mindestens 600Mio. Jahre alten Hydra-Polypen finden. Tumorzellen dieses Polyps treten nur bei der weiblichen Form auf und ähneln menschlichen Eierstockkrebszellen [7]. Das Tumorsupressorgen p53 kann schon bei Knorpelfischen und deren Vorläufern, den Seeanämonen nachgewiesen werden [8].

Seit Otto Warburg (1883-1970) ist bekannt, dass Krebszellen einem anderen Stoffwechsel unterliegen. Sie können Programme aktivieren, die Zucker in Laktat fermentieren (durch Glykolyse, anaerobe Milchsäuregährung), was eine viel schnellere Energiefreisetzung ermöglicht als die Oxidation in den Mitochondrien. Sie haben deshalb einen Selektionvorteil in sauerstoffarmem Gewebe, was es ihnen auch unter nur chaotischer Blutgefäßversorgung oder in schlecht durchblutetem Narbengewebe ermöglicht zu überleben. Krebszellen benehmen sich wie Einzeller in der Uratmosphäre, als es noch keinen Sauerstoff gab. Dieser Warburg-Effekt, der in der sogenannten „Alternativmedizin“ gern als Erklärung herangezogen wird, um den Sinn einer basischen Ernährung oder die Zuckerabstinenz zur Krebsbehandlung zu rechtfertigen, erfährt durch die Atavismus-Hypothese eine plausible evolutionären Einordnung. Um an dieser Stelle Missverständnissen vorzubeugen, muss bemerkt werden, dass nach meinem Wissen daraus bisher keine klinisch wirksamen Therapiestrategien entwickelt werden konnten. Durch „basische“ oder zuckerfreie Ernährung konnte bisher noch nirgends plausibel nachweisbar Krebs verhindert, gelindert oder gar geheilt werden.

Im Jahr 2017 wurden in „Nature“ und „Bioessays“ Artikel veröffentlicht, die sich epigenetische Marker an Mausembryonen und menschlichem Plazentagewebe (Nachgeburten) anschauten. Durch epigenetische Prozesse wird gesteuert, welche Erbinformation zu welchem Zeitpunkt abgelesen wird und zur Ausprägung kommt. Dabei stellten die Forscher fest, dass Plazentagewebe die gleiche epigenetische Signatur (Methylierungen) aufwies, wie die meisten menschlichen Krebsarten [9; 10]. Dies ist ein interessanter Befund, da Plazentagewebe eben die gleichen Fähigkeiten wie Tumorgewebe zur Invasion in andere Gewebe, in diesem Fall die Gebärmutterwand, und zur Akquise von Blutgefäßen haben muss, um seine Funktion der Ernährung des Embryos aus mütterlichen Nährstoffen und Sauerstoff zu erfüllen.

Fazit

Die wissenschaftlichen Belege verdichten sich, dass Krebserkrankungen die Reaktivierung stammesgeschichtlich sehr alter, unter normalen Bedingungen stumm geschalteter genetischer Programme unserer Körperzellen zugrunde liegt. Daraus folgend sollte das Ziel zukünftiger Forschung und Therapien sein, den Krebs nicht an seinen Stärken anzugreifen, wie es z.B. klassische Chemotherapien oder Bestrahlungen tun, indem sie sich auf die Eindämmung ungehemmten Wachstums konzentrieren. Es sollten stammesgeschichtlich jüngere Ziele und damit die Schwächen in den Fokus genommen werden, wie z.B. das Herstellen einer sauerstoffreichen Umgebung für das Tumorgewebe, die gezielte Regulation von DNA-Reparaturmechanismen oder die Einbeziehung des Immunsystems (stammesgeschichtlich eher jung). Tatsächlich lassen sich zu letzter Strategie schon Beispiele aus dem klinischen Alltag finden. Der Nobelpreis 2018 für Medizin für James P. Allison von der University of Texas und Tasuku Honjo von der Universität Kyoto kündet von ersten Erfolgen in dieser Richtung.

Andererseits bedeutet die Atavismus-Hypothese auch, dass Krebs vermutlich immer ein Teil unserer Krankengeschichten bleiben wird, da es sich um ein systemimmanentes Programm handelt und dass Prophylaxestrategien, die ein Einschalten dieser Programme verhindern, möglicherweise erfolgversprechender sein werden als Therapien.

Quellen:

[1] Stephen Hawking, Leonard Mlodinow: Der große Entwurf – Eine neue Erklärung des Universums. Deutsch von Hainer Kober. Rowohlt, Reinbek 2010

[2] Ries LAG, Melbert D, Krapcho M, Stinchcomb DG, Howlader N, Horner MJ, Mariotto A, Miller BA, Feuer EJ, Altekruse SF, Lewis DR, Clegg L, Eisner MP, Reichman M, Edwards BK (eds). SEER Cancer Statistics Review, 1975-2005, National Cancer Institute. Bethesda, MD, https://seer.cancer.gov/csr/1975_2005/, based on November 2007 SEER data submission, posted to the SEER web site, 2008.

[3] „Progress Has Been Made in War on Cancer, but Still Many Challenges“. Science Daily. 2010-03-19. Retrieved 2010-03-19.

[4] Nature 483, 531–533 (29 March 2012); http://www.nature.com/nature/journal/v483/n7391/full/483531a.html

[5] Mukherjee S: Der König Aller Krankheiten. DuMont Buchverlag Köln (2012)

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Peto%E2%80%99s_Paradox

[7] Domazet-Lošo T et al: Naturally occurring tumours in the basal metazoan Hydra. Nature Communications 5, Article number: 4222 (2014)

[8] Belyi VA et al: The Origins and Evolution of the p53 Family of Genes. Cold Spring Harb Perspect Biol. 2(6), (2010)

[9] Zachary D. Smith et al.: Epigenetic restriction of extraembryonic lineages mirrors the somatic transition to cancer. Nature, 20.09.2017, online-Vorabpublikation

[10] Macauley EC et al.: The Genes of Life and Death: A Potential Role for Placental-Specific Genes in Cancer: Active retrotransposons in the placenta encode unique functional genes that may also be used by cancer cells to promote malignancy. Bioessays. 2017 Nov;39(11Epub 2017 Oct4)

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